Aufwachsen mit einem psychisch erkrankten Elternteil

Es gibt viele Faktoren, warum Familien sich Unterstützung holen: erzieherische Überforderung, zerrüttete Familienverhältnisse, etc. Viele Kinder leiden jedoch unter weniger auffälligen Belastungen – etwa unter emotionaler Vernachlässigung, krankhaftem Suchtverhalten oder psychischen Erkrankungen im Elternhaus. Pädagogin und Familientherapeutin MMag.a Marina Steiner-Kohlmann erklärt, welche Auffälligkeiten diese Kinder haben und wie pädagogische Einrichtungen ihnen helfen können.

Kinder psychisch kranker Eltern wachsen unter belastenden Lebensbedingungen heran. Für PädagogInnen bedeutet die Arbeit mit betroffenen Familien eine Herausforderung. Es gilt, diese Kinder zu erkennen, Risiken abzuwägen und zu überlegen, wie die Zusammenarbeit mit den Eltern und Hilfsangebote für die Familie aussehen können.

In Österreich gibt es ca. 60.000 Kinder, die unter dem Einfluss einer psychischen Erkrankung eines Elternteils aufwachsen. Die Wahrscheinlichkeit, dass in jedem Kindergarten Kinder mit diesem familiären Hintergrund betreut werden, ist demnach hoch. Nachhaltig werden Lebenssituation und Entwicklung der betroffenen Kinder durch diese Erfahrung mitgeprägt. Die Erkrankung eines Elternteils führt zu einer tiefen Verunsicherung in der ganzen Familie und häufig konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf die erkrankte Person; für eine gute Betreuung der Kinder bleibt wenig Platz.

Kinder sind im Unterschied zu erwachsenen Angehörigen existenziell auf ihre Familie angewiesen und geraten besonders unter Druck. Sie wachsen unter belastenden Bedingungen auf und sind mit einer Vielzahl an Gedanken und Gefühlen konfrontiert, die überfordernd sein können. Sie brauchen daher möglichst früh präventive Hilfe und Unterstützung, da sie im Lauf ihres Lebens ein erhöhtes Risiko tragen, selbst eine psychische Krankheit zu entwickeln.

 

Wie erleben Kinder die Krankheit ihrer Eltern?

Was geht in den betroffenen Kindern vor, wie empfinden sie die Krankheit? Ein Blick in ihre Erlebenswelt kann helfen, ein Verständnis für sie und ihre Situation zu entwickeln.

Informationsmangel: Werden die Kinder nicht ihrem Alter entsprechend über die Erscheinungsformen der Krankheit aufgeklärt, können sie die Probleme ihrer Eltern nicht einordnen, sind verängstigt und verwirrt.

Tabuthema: Häufig spüren sie, dass sie über die Erkrankung nicht sprechen dürfen, und fürchten, dass sie ihre Eltern verraten, wenn sie es doch tun. Viele Kinder wissen nicht, an wen sie sich bei Problemen wenden können, fühlen sich alleine und ziehen sich zurück.

Rollenumkehr: Ältere Kinder fühlen sich für die Familie verantwortlich und übernehmen oft Elternrollen bzw. -funktionen (z. B. auf Geschwister aufpassen, Haushalt führen, Stabilisieren des kranken Elternteils etc.). Ihre Bedürfnisse kommen oft zu kurz.

Loyalitätskonflikte: Wenn Kinder über die Erkrankung Bescheid wissen, kann es schwierig werden, ihre eigene Wut und Traurigkeit auszudrücken, da sie gleichzeitig Verständnis für den betroffenen Elternteil haben. In Kontakt mit außenstehenden Personen können innere Konflikte entstehen, wenn sich die Kinder für die Zustände zu Hause und ihre Eltern schämen.

 

Gibt es beobachtbare Hinweise?

Betroffene Familien und Kinder zu erkennen ist nicht einfach, denn psychische Erkrankungen sind immer noch stark stigmatisiert und schambesetzt. Die Familie möchte möglicherweise verhindern, dass die Erkrankung im Kindergarten bekannt wird, und verheimlicht sie. Natürlich wäre ein offener Umgang, bei dem die betroffene Person oder Familienangehörige selbst von der Krankheit erzählen, wünschenswert. Manchmal erwähnen auch die Kinder, dass es einem Elternteil schlecht geht („Die Mama liegt immer am Sofa und weint“). Häufiger muss jedoch aus dem Verhalten der Eltern oder Kinder auf Probleme innerhalb der Familie geschlossen werden. Die PädagogInnen erleben das Verhalten der Eltern im direkten Kontakt als schwierig oder eigenartig, sie haben das Gefühl, dass „etwas nicht stimmt“. Möglicherweise ist der kranke Elternteil nur phasenweise im Kindergarten präsent und fällt durch Abwesenheit auf. Häufiges Zu-spät-Kommen und Fehlzeiten des Kindes (z. B. dass die Mutter/der Vater es nicht schafft, in der Früh aufzustehen) oder ein plötzlich erhöhter Betreuungsbedarf (z.B. aufgrund eines Klinikaufenthalts) können ebenfalls Hinweise sein. Teilweise erlauben die Eltern ihren Kindern nicht, andere zum Spielen einzuladen oder selbst auf Besuch zu gehen. Manchmal kann auch das Verhalten anderer Eltern ein Hinweis sein, wenn diese ihren Kindern Kontakt zu den betroffenen Kindern verbieten und die Familie meiden. Kinder reagieren sehr unterschiedlich auf die Erkrankung. Es ist daher schwierig, vom Verhalten eines Kindes direkt auf eine psychische Krankheit im Elternhaus zu schließen. Ein kleiner Teil der Kinder wächst trotz erhöhter Belastung problemfrei auf. Manche Kinder zeigen gezielt auffälliges Verhalten (z.B. ständig Grenzen austesten), das als Hilferuf gedeutet werden kann. Weitere Hinweise sind unruhiges bis aggressives Verhalten gegen sich selbst oder andere, erhöhte Ängstlichkeit, sozialer Rückzug oder besonders anhänglich-klammerndes Verhalten. Auch Schlafprobleme, Müdigkeit oder Konzentrationsprobleme könnten Hinweise sein. Ist die Belastung in der Familie zu groß und die ausreichende Versorgung/Betreuung der Kinder gefährdet, können Anzeichen von Verwahrlosung auftreten (z. B. schmutzige Kleidung, mangelnde Körperpflege).

Und es gibt auch Kinder, die auf den ersten Blick gar nicht auffällig sind. Sie wirken pflegeleicht, wachsam und entwickeln ein gutes Gespür für die Stimmung anderer Menschen. Sie definieren sich oft über ihre Leistungen, übernehmen Elternaufgaben, zeigen eventuell kontrollierendes Verhalten und erlauben sich keine Schwächen. Im Kindergarten sind sie beliebt und werden als angenehm wahrgenommen, bekommen aufgrund ihres Verhaltens aber keine besondere Unterstützung. Auch wenn sie für ihr Alter ungewöhnlich reif scheinen, ist es wichtig, dieses Verhalten als ungesunde Anpassung an die Probleme daheim zu verstehen.

 

Welche Hilfe kann der Kindergarten anbieten?

Eine wirksame Hilfe für Kinder psychisch kranker Eltern erfordert die Zusammenarbeit mehrerer Berufsgruppen wie Erwachsenenpsychiatrie und Psychotherapie, Jugendwohlfahrt, Entwicklungspsychologie und Kinderpsychotherapie. Der Kindergarten allein kann die komplexe Aufgabe der Begleitung einer betroffenen Familie nicht leisten.

Bevor der Kindergarten Angebote an die Eltern und Kinder macht, ist es gut, sich Klarheit zu verschaffen, wie viel und welche Hilfe er anbieten kann. Es ist zu überlegen, inwieweit man über den gesetzlichen Auftrag des Kindergartens hinaus für Eltern und Kinder eine begleitende und unterstützende Rolle einnehmen kann und möchte. Neben den institutionellen Grenzen (z. B. wenig Zeit für Einzelzuwendung) sind auch die persönlichen Grenzen der PädagogInnen zu bedenken. Andernfalls kann der verständliche Wunsch, helfen zu wollen und für Eltern sowie Kinder eine Ansprechperson zu sein, schnell in eigener Überforderung enden.

Weiters ist eine kontrollierende Rolle im Sinne des Kinderschutzes zu nennen. PädagogInnen haben die Aufgabe, betroffene Kinder dahingehend zu beobachten, ob sich Gefährdungsmomente zeigen, die die Einschaltung von Jugendwohlfahrt oder anderer professioneller Helfersysteme notwendig machen.

Im Umgang mit den Eltern kann dies z. B. bedeuten, dass ein Kind im Zweifelsfall einem sich auffällig verhaltenden Elternteil nicht übergeben werden darf. Sollte ein psychisch kranker Elternteil den Kindergartenbetrieb schwerwiegend stören oder für Eskalation sorgen, muss sogar ein Hausverbot überlegt werden.

 

Praktische Anregungen und konkrete Fragen

... mit Blick auf die Eltern

Die Zeit im Kindergarten ist für die ganze Familie eine Ressource und wird von vielen Eltern als Entlastung wahrgenommen, da sie ihre Kinder in sicherer und förderlicher Umgebung wissen. Durch regelmäßige Kontakte zu den Eltern entsteht ein Vertrauensverhältnis, auf dem aufbauend PädagogInnen einen Austausch über die familiäre Situation und Unterstützungsmöglichkeiten anbieten können. Folgende Fragen sind zur Vorbereitung darauf hilfreich:

Welche Erkrankung hat der betroffene Elternteil, wie schwerwiegend ist der Verlauf?

Welche Informationen habe ich über diese Krankheit und den Umgang mit Betroffenen?

Wie offen gehen der betroffene Elternteil und andere Angehörige mit der Krankheit um?

Was passiert in krisenhaften Phasen der Krankheit, gibt es einen Notfallplan, in dem beispielsweise festgelegt ist, wo die Kinder schlafen?

Wie können die Kinder möglichst lange Zeit Kontakt zu gesunden Erwachsenen und Kontinuität erfahren (z. B. Verlängerung der Betreuungszeiten)?

Möchte ich den Eltern anbieten, Informationsmaterial für betroffene Kinder zu besorgen?

Inwieweit sind die Kinder über die Krankheit, deren Verlauf und Symptome informiert?

Wie geht es den Kindern im Kindergarten?

Sind Auswirkungen der elterlichen Krankheit beobachtbar, die den Eltern rückgemeldet werden müssen? Bedarf es weiterer Schritte?

 

... mit Blick auf die Kinder

In der Einrichtung erleben die Kinder eine alltägliche Routine mit klaren Strukturen, Normalität und sind in ein soziales Umfeld eingebunden, was bereits einen stabilisierenden Wert hat. Darüber hinaus helfen folgende Fragen und Anregungen, die Kinder zu entlasten und zu stärken: Weiß ich, was betroffene Kinder für ihre gesunde Entwicklung brauchen? Welche Auswirkungen kann die elterliche Erkrankung haben?

Die Kinder brauchen eine Bezugsperson die verlässlich, aufmerksam und sensibel für ihre Bedürfnisse ist. PädagogInnen können sich als Gesprächspersonen anbieten, die zuhören, trösten und bereit sind, über die Situation zu Hause zu sprechen. Es ist gut, die Krankheit beim Namen zu nennen und bei Bedarf zu erklären, wie sie sich äußert. Bilderbücher können helfen, mit den Kindern ins Gespräch zu kommen und „richtige“ Worte zu finden (s. Literaturliste und Buchseiten). Die Botschaft vermitteln, dass die Kinder für die Erkrankung und das Verhalten ihrer Eltern nicht verantwortlich sind. Sie dürfen trotz Krankheit eigene Sachen machen und auch fröhlich sein.

Die einfache Auskunft, dass es auch andere in derselben Situation gibt, kann Kindern helfen, sich nicht alleine und isoliert zu fühlen. PädagogInnen können positive soziale Kontakte der betroffenen Kinder im Kindergarten fördern und schon durch ihre Erziehungshaltung das Selbstwertgefühl und die Selbstwirksamkeit stärken. Wenn Kinder erleben, dass sie gehört und gelobt werden, selbst tätig sein dürfen und die Umwelt freudig darauf reagiert, können sie ein positives Selbstkonzept entwickeln. Die Kinder bei der Wahrnehmung ihrer eigenen Gefühle unterstützen, einen Ausdruck für Gefühlszustände und Bedürfnisse vermitteln. Den Kindern rückmelden, dass alle, teilweise widersprüchlichen Gefühle gegenüber dem Elternteil normal sind. Auch die Problemlösekompetenz kann gefördert werden. Diese verbessert die Handlungsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit in akuten Belastungssituationen.

 

MMag.a Marina Steiner-Kohlmann

Jahrgang 1979. Kindergarten- und Hortpädagogin (Ausbildung an der BAKIP Wien 21– Patrizigasse). Klinische und Gesundheitspsychologin, Systemische Familientherapeutin in Ausbildung (u. S.). Als Kindergartenpsychologin bei der St. Nikolaus-Kindertagesheimstiftung in Wien sowie als Psychotherapeutin und Referentin tätig.

 

Aus dem Fachjournal „UNSERE KINDER“. Weitere Artikel, Ideen und pädagogische Tipps für Kindergarten- und Kleinkindpädagogik finden sie im Journal des Caritas-Fachverlags. „UNSERE KINDER“ erscheint alle zwei Monate.

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