Mit einer Pferdestärke zur sozialen Kompetenz

Hoch zu Ross können die Kinder es genießen, einmal auf die Erwachsenen hinab zu blicken. Die Reittherapie stärkt insbesondere ihr Selbstwertgefühl.

Ein kleines Kind, ein großes Pferd – da ist Respektabstand garantiert. Doch die anfängliche Ehrfurcht kann gerade Kindern und Jugendlichen helfen, die sonst keine Grenzen kennen und sich ihrem Umfeld gegenüber aggressiv verhalten. In der Begegnung mit dem Pferd entwickeln sich Kinder oft zu ganz neuen Menschen.

Geduldig warten vier Kinder darauf, dass es endlich los geht. Draußen herrscht strahlender Sonnenschein, doch das wirklich Spannende wartet in der schattigen Reithalle auf sie. „Zieht euch die Patschen an und dann machen wir eine Stirnreihe“, fordert Andrea Scharizer die Kinder auf. Die Psychologin begleitet gemeinsam mit Reittherapeutin Andrea Kitzmüller die Gruppentherapie.

Der 7-jährige Selim zeigt auf seine Schwester. „Kann sie mitkommen?“, fragt er. Ohne auf eine Antwort zu warten hebt er sie hoch und gibt ihr ein Busserl auf die Backe. Der kleinen Schwester ist das ganz recht. Als Inbegriff der Zufriedenheit lässt sie sich von Selim herumtragen.

Es ist die letzte Einheit der zehnstündigen Reittherapie. Deshalb sind – ausnahmsweise – Eltern und Verwandte da. Die Kinder wollen den Großen zeigen, was sie alles können. Dass Selim sich dabei mit seiner kleinen Schwester so gut versteht, ist nicht selbstverständlich. Bevor er anfing, mit der Stute „Farbenfroh“ und der Kindergruppe Zeit zu verbringen, hatte er seiner Mutter eine Menge Kummer beschert. Selim war schon immer sehr aggressiv gewesen. Mit drei Jahren hatte er Fernseher, Handys und Brillen kaputt gemacht. Beim Heimaturlaub in der Türkei den Esel geschlagen und den Hund geärgert. Die tägliche Bettruhe war für die Mutter ein Kampf gegen Windmühlen. Keine zehn Pferde hätten Selim vor 23 Uhr ins Bett gebracht. Am Ende reichte eines – Farbenfroh.

BEWEGUNG LAUTET DIE DEVISE
Während Farbenfroh, geführt von Andrea Kitzmüller, am Zügel im Kreis trabt, bilden die vier Kinder um das Pferd einen eigenen Kreis. Zwei stehen sich jeweils gegenüber, in der Mitte die Pferdetherapeutin. Abwechselnd laufen sie mit Farbenfroh um die Wette – einmal um den Kreis herum. Andrea Kitzmüller passt das Tempo des Pferdes immer auf das jeweilige Kind an. Selim ist Feuer und Flamme und will unbedingt schneller sein. Die letzten zwei Meter wirft er sich, Hände voran, nach vorne und erreicht die „Ziellinie“ mit einem Bauchfleck.

Als nächstes läuft jeweils ein Kind neben dem Pferd her und hält sich am Sattel fest. Beziehung muss langsam, schrittweise aufgebaut werden. Kein Kind möchte gleich aufs Pferd steigen. Oft braucht es an die vier Einheiten, bis die Kinder sattelfest sind. Ein Kind war sogar besonders scheu. Auch nach den zehn Einheiten traute der Junge sich nicht aufsteigen. Erst beim dritten Durchgang fasste er sich ein Herz. Als er nach all der Zeit endlich oben saß, war das Entzücken so groß, dass er freudig durch die ganze Halle schrie.

Schließlich darf auch in dieser Einheit das erste Kind aufs Pferd. Elias trabt im Kreis, noch immer geführt von der Reittherapeutin. Als er an einem Kind vorbeireitet, ruft er „Komm mit“ oder „Lauf weg“. Je nach Kommando versucht das Kind, schneller wieder an der Ausgangsposition zu sein als Elias. Kooperation und Konkurrenz – beides ist in den Spielen der Reittherapie verbunden. Gerade wenn es um Schnelligkeitsspiele geht, kann es schon einmal zu Konflikten kommen. Oder auch bei der begehrten Frage, wer zuerst aufsatteln darf. Psychologin Andrea Scharitzer ist dabei streng. Gemeinschaftsorientiertes Verhalten wird belohnt. Wenn sich zwei streiten, freut sich der Dritte, der stattdessen die federführende Position am Pferd einnehmen darf. So lernen die Kinder schnell, dass sie sich kooperativ verhalten müssen, um ans Ziel zu kommen. Wenn sie sich dann noch gegenseitig anfeuern, während sie Voltigierübungen am Rücken von Farbenfroh machen, ist das Gemeinschaftsgefühl perfekt.

SOZIALE KOMPETENZ UND AD(H)S
Während früher mehr Kinder mit körperlichen Beeinträchtigungen oder Konzentrationsschwierigkeiten in die Reittherapie kamen, geht es mittlerweile stärker in Richtung soziale Kompetenz. „Das Pferd schafft etwas Gemeinsames und verbindet alle“, weiß Claudia Pernkopf, Leiterin des Integrativen Reitzentrums. In der Kleingruppe sehen die Kinder, wie sie behutsam mit dem Pferd und fair den anderen Kindern gegenüber handeln müssen. Gerade Kinder mit AD(H)S, einem schwachen Selbstwertgefühl oder Entwicklungsverzögerungen profitieren davon. „Anfangs ist der Respekt noch sehr groß“, so Pernkopf. „Aber wenn sie dann oben sitzen, sind sie stolz darauf, plötzlich auf die Erwachsenen hinab blicken zu können.“ Für Kinder, die schlechte Erfahrungen mit anderen Menschen gemacht haben, missbraucht wurden oder posttraumatische Belastungsstörungen haben, ist der Kontakt mit dem Pferd oft der erste Schritt, ihr Vertrauen wieder zu stärken. „Das Pferd diskriminiert nicht, sondern bietet immer eine Beziehung an“, weiß Pernkopf.

So auch bei Selim, der die Diagnose AD(H)S hat. Während er früher in der Schule oft in Raufereien verwickelt war, kümmert er sich heute um die anderen in der Gruppe und streitet weniger mit seinen Geschwistern – sehr zur Freude der Mutter. „Ich war nervlich am Ende und habe viel geweint“, erinnert sich Selims Mutter an die Zeit vor der Therapie. „Weil Selim nicht ins Bett wollte, habe ich selber auch keinen Schlaf bekommen.“ Auch das Sozialleben hatte gelitten – Nachbarn und Freunde wollten nicht zu Besuch kommen, weil Selim so laut und anstrengend war. „Selim hat sich zu 100% gewandelt“, freut sich die Mama. „Er ist ruhiger geworden, und so bin ich auch ruhiger geworden – und kann jetzt eine entspanntere Mutter sein.“

Das Feedback der Eltern bestätigt es: St. Isidor setzt aufs richtige Pferd.